Bruchsal - Eine Stadt stellt sich ihrer Verantwortung
Es ist schon ca. drei Jahrzehnte her, dass gegen großen Widerstand aus den lokalen Behörden ein bisher unter Verschluss gehaltener Film der Öffentlichkeit präsentiert wurde, es ist das hier bereits erwähnte Filmdokument „Bruchsal unterm Nationalsozialismus“. Es war nur der Beharrlichkeit eines Gemeinderates zu verdanken, dass der Film überhaupt den Weg ans Licht fand.
Bereits 2001 wurde das Buch „Bruchsal und der Nationalsozialismus“ von Alexia Kira Haus in der Reihe „Veröffentlichung der Historischen Kommission der Stadt Bruchsal“ publiziert. 2007 wurde das Buch „Geschichte der Juden in Bruchsal“ von Jürgen Stude in der gleichen Reihe der Historischen Kommission veröffentlicht.
Noch heute wird in Bruchsal bei Fastnachtsveranstaltungen das Lied „De Brusler Dorscht“ gesungen. Was viele nicht wissen: Der Autor des Textes hieß Otto Oppenheimer – und war einer von den etwa 700 Bruchsaler Juden, die bestenfalls vor den Nazis aus Deutschland fliehen mussten, schlimmstenfalls aber in der Shoah ihr Leben verloren.
Nach einem langen Diskussionsprozess wurde 2011 der Holzmarkt, der bis 1945 Adolf-Hitler-Platz hieß, nach diesem Bruchsaler Tuchhändler Otto Oppenheimer benannt. Der Archivar des Leo-Baeck-Instituts in New York, Michael Simonson, kommentierte die Umbenennung des Platzes so: „Durch die Geschichte der Familie Oppenheimer und die Umbenennung des Platzes wurde noch so viel mehr ans Licht gebracht – andere Namen, Details der damaligen Ereignisse, Geschichten von Flucht und Kollaboration – und in der Stadt entwickelte sich eine Atmosphäre der Entschlossenheit, noch mehr herauszufinden“.
Zu Otto Oppenheimer und dessen große Familie erschien in der Reihe „Veröffentlichungen zur Geschichte der Stadt Bruchsal“ als Jubiläumsband „Oppenheimer – Eine jüdische Familie aus Bruchsal“, herausgegeben von Thomas Adam, Thomas Moos und Rolf Schmitt. Im Frühjahr 2020 wird beim Otto-Oppenheimer-Platz ein großes Denkmal errichtet, das an Otto Oppenheimer, dessen Familie und deren Schicksale erinnern wird.
Seit 2014 wird erstmals an prominenter innerstädtischer Stelle an einen der wichtigsten Bruchsaler gedacht, an den jüdischen Anwalt und Politiker Ludwig Marum, der von 1914 bis 1928 Landtagsabgeordneter und zeitweise Minister in Baden war und später in den Reichstag gewählt wurde, wo er bis zu seiner Verhaftung 1933 tätig war. Er wurde 1934 als einer der ersten Juden ermordet. Die Gedenktafel für Ludwig Marum wurde in seiner Heimatstadt Bruchsal Im Jahre 2014 im Schlossbereich enthüllt.
Seit 2015 werden auch in Bruchsal Stolpersteine verlegt – nach teilweise großem Widerstand. Mittlerweile ist die Verlegung von Stolpersteinen in dieser Stadt eine jährlich wieder kehrende festliche, oftmals anrührende Veranstaltung, zu der die Nachfahren von vertriebenen oder ermordeten Bruchsalerinnen und Bruchsalern eingeladen werden und auch gerne kommen.
In Bruchsal stehen nunmehr für die nächsten Jahre zumindest noch zwei große Projekte an. Eines dieser Projekte ist das Taharahaus beim Bruchsaler jüdischen Friedhof. Zur Zeit wird das Gebäudeinnere renoviert, danach wird zu diskutieren sein, wie das Gebäude genutzt werden sollte, um die Erinnerungskultur dieser Stadt zu bereichern.
1938 wurde die Bruchsaler Synagoge niedergebrannt, die Feuerwehr löschte nicht. Die jüdische Gemeinde wurde nie für den entstandenen Schaden entschädigt. Auf diesem Grundstück wurde 1953 das Bruchsaler Feuerwehrhaus errichtet. Die Feuerwehr bezieht voraussichtlich 2020 neue Räume und in Bruchsal wird diskutiert, was auf diesem Grundstück entstehen und was mit den noch im Boden befindlichen Grundmauern geschehen soll. Ein Förderverein setzt sich für den Bau des in seiner Konzeption einmaligen „Haus der Geschichte der Juden Badens“ auf diesem Grundstück ein. Diese Idee findet viel positive Resonanz in der Bevölkerung, der Zuspruch im Gemeinderat ist nicht so groß, brächte doch eine Verwertung des Grundstückes Einnahmen in Höhe von 1,2 bis 1,5 Millionen Euro. Es wird spannend zu sehen, ob sich angesichts dieser großen Summe Bruchsal trotzdem seiner Verantwortung stellen wird.
22. Oktober 2020 - 80. Jahrestag der Deportation nach Gurs
Gurs
An diesem Verkehrsschild sind Sie vielleicht schon öfters vorbeigefahren. Es steht in der Prinz-Wilhelm-Straße in Bruchsal, schräg gegenüber vom Bahnhof: 968 Kilometer sind es von hier bis nach Gurs. Gurs? Wo ist Gurs? Und was hat Gurs mit Bruchsal zu tun?
Gurs ist eine kleine Gemeinde von nicht einmal 500 Einwohnern in Südfrankreich am Fuße der Pyrenäen, nicht weit vom Atlantik und kurz vor der französisch-spanischen Grenze. Ein kleines Nest, das nicht sonderlich interessant wäre, hätte es da nicht vor etwa 80 Jahren eine Einrichtung gegeben, die für Tausende von Menschen zum tödlichen Verhängnis wurde: ein Konzentrationslager. Nahezu 20.000 Juden wurden in den Jahren 1940 bis 1945 dort interniert, sie kamen überwiegend aus Deutschland.
Im Oktober 1940 allein wurden 6.538 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in Eisenbahntransporten nach Gurs verschleppt. Viele starben bereits auf dem Weg nach Südfrankreich oder dann im harten Winter, in den etwa 380 Baracken, die alle unbeheizt waren. Die meisten der Überlebenden wurden später in den Vernichtungslagern Auschwitz-Birkenau und Sobibor umgebracht.
Am 22. Oktober waren es aus dem damaligen Landkreis Bruchsal 123 Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens, allein 68 aus Bruchsal. Sie wurden durch die Stadt zum Bahnhof getrieben und dort in Eisenbahnwaggons verladen. Diese Filmsequenz aus dem Archiv der Stadt Bruchsal ist ein bedrückendes Zeitdokument.
Ziel der Aktion der Nationalsozialisten war es, Südwestdeutschland als erstes Gebiet im Reich „judenfrei“ zu machen. Die Gestapo-Beamten kamen am frühen Morgen in die Wohnungen, um die Betroffenen abzuholen. Diese mussten innerhalb einer Stunde ihre Habseligkeiten zusammenpacken, höchsten 50 Kilogramm pro Person, eine Wolldecke, Geschirr und Verpflegung für mehrere Tage.
Und am Anfang des Filmausschnitts steht die für immer schändliche Schrifttafel:
Bruchsal judenfrei!
Die letzten Juden verlassen Bruchsal
Am nächsten Donnerstag, am 22. Oktober 2020, ist es also genau 80 Jahre her, dass diese Szenen am Bruchsaler Bahnhof auf Film gebannt werden konnten. Aus diesem Grunde veranstalten Bruchsaler Bürgerinnen und Bürger einen Schweigemarsch durch die Stadt. Er beginnt um 10 Uhr am Otto-Oppenheimer-Platz und führt durch die Fußgängerzone und die Friedrichstraße, vorbei am Feuerwehrhaus, wo früher einmal die jüdische Synagoge stand, zum Viktoria-Park. Am Anfang und am Ende des Marsches finden kurze Gedenkfeiern statt. Die Teilnehmer tragen Plakate mit den Fotos von Bruchsaler Jüdinnen und Juden, die an diesem Tag verschleppt wurden, und geben damit diesem Gedenkmarsch Namen und Gesichter. Gesichter der Mitbürgerinnen und Mitbürger von damals, deren Nachkommen heute Mitglieder unserer Stadtgesellschaft sein könnten.
Wegen Corona ist die Teilnehmerzahl begrenzt. Die Bevölkerung ist aber eingeladen, dem Gedenkmarsch in der Fußgängerzone beizuwohnen. Die Bruchsaler Oberbürgermeisterin Cornelia Petzold-Schick wird die Gedenkaktion mit einer Rede eröffnen.
Ja, jetzt wissen Sie, was es mit diesem Verkehrsschild in Bruchsal auf sich hat. Und vielleicht erzählen Sie diese Geschichte in den nächsten Tagen weiter. Oder besser noch, vielleicht kommen Sie am Donnerstag in die Fußgängerzone und geben diesem Gedenkmarsch eine würdige Kulisse.